Donnerstag, 6. Januar 2011

Kapitel 1 MIT Fortsetzung

Viel Spaß ;)

Ich war völlig verblüfft und starrte sie ängstlich an. Jegliche Farben waren aus ihrem Gesicht gewichen und in ihren Augen war eine Art Leere, Verzweiflung und zugleich Überraschung. Nahezu nichts rührte sich an ihr, nicht einmal ihre Augen zeigten eine Regung, indem sie blinzelten. Sie wirkte wie eine leblose, kühle Statue aus Eis. Das einzige was sich bewegte waren ihre Finger die so stark zittern, dass es schon aussah, als ob sich ihre Finger ganz normal bewegten. So als wäre alles normal. Aber das war es ganz und gar nicht. Denn so hatte ich meine Mutter noch nie erlebt.
Eine eisige Windböe erfasste ihre Haare und ließen sie gegen ihr Gesicht peitschen, doch sie zeigte immer noch kein Anzeichen von einer, wenn auch minimalen Bewegung.
Ihr Gesichtsausdruck, welcher sich langsam von Verwunderung zu Wut änderte, verängstigte mich und ich versuchte verzweifelt sie anzusprechen, doch sie schien nichts mitzubekommen.
„Mum, was ist mit dir los?  Nun rede doch!? Mum was ist passiert? Warum bewegst du dich nicht? Mum?“
Immer noch kein Wimpernschlag. Ein weiterer Windzug erfasste nun mich und ich zuckte zusammen.  Die Blätter raschelten gefährlich und der Himmel grummelte. Es bahnte sich ein Gewitter an und es würde nicht mehr lange dauern bis es regnen würde. Und wenn es regnete, dann richtig. Wahre Wolkenmassen türmten sich dann innerhalb weniger Augenblicke am Himmel zusammen, verdunkelten alles schlagartig und dann würden die Tropfen schon auf uns niederprasseln.
Nach weiteren zwei Minuten, in denen Lia sich immer noch nicht regte, spürte ich wie nasse Perlen mein Gesicht hinabliefen. Nein, es hatte nicht begonnen zu regnen, dafür war das Donnergrummeln noch zu leise. Ich wusste nicht warum ich jetzt heulte, doch ich konnte nicht anders.
Was war nur mit meiner Mutter los?
Sie war schon immer ein Mensch gewesen, der selbst in den schrecklichsten Momenten nie die Fassung verlor und immer seine wahren Emotionen hinter einer Fassade versteckt hielt. Doch heute... ich wusste nicht weshalb sie so aufgebracht, so geschockt war. Oder was überhaupt geschehen war, dass sie so anders als normalerweise war. Dass sie mir völlig fremd erschien. Ich wusste es einfach nicht. Ich brachte nichts über meine Lippen. Was hätte ich auch groß  sagen können? „Mum, bist du von einem Dämon besessen? Geht’s dir gut?  Oder soll ich den Teufelsaustreiber holen?“ Das ging ja wohl schlecht. Dabei war alles... alles schien heute nach dem Essen so... so normal. So wie immer.
Wir waren wie jeden Abend in den abgelegenen Wald am nördlichen Stadtrand gelaufen, um uns Nahrung zu suchen.
Nahrung suchen deshalb, weil wir es uns nicht leisten konnten im Supermarkt die teuren Hightech-Lebensmittel zu kaufen. Das bisschen Geld was wir unser eigen nennen konnten, war der Verdienst von meiner Mutter in der Fabrik, und es langte bei weitem nicht für ein Stück Butter, geschweige denn einen ganzen Laib Brot.
Wenn ich von der Fabrik redete, dann wissen alle was gemeint war. Die Fabrik war der einzige Ort wo man egal seiner Herkunft, seines Aussehens oder seines Besitzes arbeiten durfte. Alle anderen Berufsmöglichkeiten waren... ihnen vorbehalten.
Den Schönen. Den Reichen. Den Mächtigen. Den Bösen.
Und dazu gehörten wir nicht. Nein, nicht wir. Wir könnten und wollten auch nicht so werden wie die Mächtigen. Man musste in solch einer Familie geboren sein um dazu zugehören, sonst musste man so leben wie meine Familie, wie meine Freunde und wie fast alle Menschen unsere Welt:
Bescheiden, zurückhaltend und unscheinbar. Wir lebten am Abgrund des Todes, jeden Tag galt es den Kampf ums Überleben erneut zu gewinnen. Wir hatten keine Nahrung, kein Dach das uns vor dem dauernden Regen schützteund keine ordentliche Kleidung, die unsere Blessuren von der täglichen Feldarbeit verdeckte. Doch irgendwie kamen wir mit unserem Leben zurecht. Wir liebten es nicht und manche Tage waren noch härter als üblich, doch wir gaben unser Bestes all die Gewalt und Not zu vergessen. Am meisten half mir mein kleiner Bruder Benny: Er war wie ein Licht in dieser düsteren Welt und brachte mich durch seine ungewollt lustige Art immer wieder zum Lachen.
Mit seinen verstrubbelten Haaren, die er nicht nur nach dem Aufstehen hatte, und den schelmisch funkelnden braunen Augen, die meinen so ähnlich waren, konnte er gar nicht anders, als uns zum Lachen bringen.
Vor allem wenn er mal wieder über seine eigenen, im Vergleich zum eher schmächtigen, kleinen Körper, großen Füße stolperte und direkt vor uns auf den Boden segelte, dann schaffte ich es nie nicht los zu kichern.
Klar, sollte man eigentlich nicht über andere und ihre Tollpatschigkeit lachen. Aber ich mache mich ja nicht über ihn lustig, nicht wirklich jedenfalls. Ich muss nur lachen, weil er genauso ist wie ich es in seinem Alter war.
Ich bin über jeden gestellten Fuß geflogen und bei jeder denkbaren Gelegenheit ist mir irgendetwas aus den Händen geflogen, sei es eine trockene Brotscheibe, die dann im Bach landete oder ein kostbarer Gegenstand in der Fabrik. Dafür wurde ich auch den Aufpassern in unserem Arbeitssektor gehörig bestraft. Man strich mir meinen Lohn, obwohl das Wort dafür gar nicht passte, da die paar Münzen einem Menschen einfach nicht zum Überleben reichten, meine tägliche Brotscheibe und den Krug Wasser, die jedem Arbeiter zustanden, bekam ich auch nicht.
Stattdessen musste ich neben meinem knurrenden Magen, noch die Schmerzen von den Schlägen der Aufpasser ertragen.
Die Aufpasser sind große stämmige, bullige Männer, tätowiert von oben bis unten, ehemalige Soldaten nehme ich mal, mit denen eindeutig nicht gut Kirschen essen ist.
Hinter ihrem Rücken heißen sie nur „Die Quäler“, da sie nichts als Qualen, Schmerzen und Strafen mit sich bringen.
Es vergeht kein Arbeitstag, an dem ein Arbeiter nicht geschlagen, getreten oder sonst wie misshandelt wird.
Tja, das ist unsere Welt. Das ist die Realität.
So sieht das Leben von einem Großteil der Menschen auf unserer Welt aus.
Jedenfalls in unserem Dorf.
Ich weiß nicht wie es den anderen Menschen da draußen geht. Ich habe auch noch nie was davon gehört. Wir sind wie von der Außenwelt abgeschnitten.
Es gibt nur uns. Unser Dorf, die Fabrik und die täglichen Qualen. Die Anstrengungen zu Überleben.
Wir sind eine Gemeinschaft, da wir alle dasselbe Schicksal erleiden.
Und nur das zählt.
Wie es den anderen da draußen ergeht, interessiert uns nicht wirklich.
Auch wenn wir die Möglichkeit hätten, durch Fernsehen, Radio und Telefone, mitzubekommen wie das Leben der anderen aussieht, keiner hier würde es sehen wollen.
Denn allein schon der Gedanke, dass es nur uns so schlecht geht und den Anderen eben nicht, macht einen deprimiert und fertig. Wenn wir das auch noch bildhaft vor uns sehen müssten, mitansehen wie die anderen in Saus und Braus leben, dann...
Aber eigentlich noch schlimmer wäre es, wenn die Anderen genauso wie wir leben müssten.
Wenn sie genauso leiden müssten und jeden Tag ums Überleben kämpfen würden.
Würden wir das mitbekommen, wären wir alle noch deprimierter, da wir ein für alle mal wüssten: Es gibt keine Hoffnung. Da draußen sieht es genauso wie bei uns aus. Sie werden sich nicht zusammen tun und uns helfen. Sie brauchen die Hilfe doch selber.
Deswegen ist es gut, dass keiner im Dorf weiß, wie es am anderen Ende der Welt aussieht.
Deswegen ist es gut, dass ich jemanden habe wie Benny. Jemanden der einen, wenigstens für den Moment, von unserem schlimmen Leben, der schrecklichen Arbeit und dem wenigen Essen ablenkt.
Ein lauter Donnerschlag riss mich aus meinen Tagträumen. Es war kein Grummeln wie vorher, sondern ein gewaltiges Dröhnen. Es hatte begonnen zu regnen und der Himmel war nun aschgrau. Immer mehr Wolken türmten sich über unseren Köpfen auf, sodass es für die Sonne keine Möglichkeit gab hin durchzudringen. Kein einziger Lichtstrahl schaffte es durch die undurchdringliche, dichte Wolkendecke und fiel nicht auf die Erde, sodass Keira und ich in der völligen Dunkelheit standen. Ich hatte nun noch mehr Angst, das einzige Gute an diesem Wetterumschwung war, dass ich das Gesicht von meiner Mutter nicht mehr genau erkennen konnte. Es hätte mich bestimmt noch mehr verängstigt, obwohl es eine Steigerung von meiner jetzigen Angst, meiner Meinung nach, nicht mehr geben könnte.
Ich wusste nicht was ich tun sollte. Inzwischen waren weitaus mehr als 10 Minuten vergangen in denen ich hier stand. Meine triefende Kleidung klebte an meinem Körper und ich begann zu frösteln. Langsam, aber sicher fing ich an zu verzweifeln: Was soll ich denn nun bitte mit Keira machen? Was ist mit ihr los, zum Teufel nochmal!? Wie lang will sie hier noch stehen und mich anschauen, als wäre ich von einer anderen Welt?!
Wieder wurden meine Überlegungen von etwas unterbrochen, das mich erschreckte. Diesmal war es jedoch nicht das Gewitter, sondern ein Ast der knackste. Immer und immer wieder raschelte und knackste es auf dem Boden, als ob jemand durch den tiefen Wald rennen würde.
Doch wer betrat nachts bei diesem Wetter den Wald? Eigentlich war unsere Familie eine der letzten die abends noch Nahrung suchte.
Vielleicht war es aber auch gar kein Mensch? Knacks. Nun konnte ich Pfoten hören, die auf dem nassen Erdboden heran trabten. Ja, es musste ein Tier sein, so schnell war kein Mensch. Jedenfalls kein Mensch, den ich kannte. Aber selbst Superman würde sich sicher nicht um diese Uhrzeit in diesen abgelegenen Wald verirren. Superman würde uns alle von dem Leid erlösen, aber das war ja so unwahrscheinlich. Es konnte nur ein Tier sein. Es kam immer näher, ich hörte das laute, unregelmäßige Schnaufen – was für ein Tier machte solche Geräusche? Es musste eine richtige Bestie sein - und den Schlamm immer lauter spritzen. Es musste direkt auf mich zukommen.  Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter und es fröstelte mich noch mehr.
Meine Mutter schaute mich  gestört an, es war fast schon Nacht und düster, es donnerte jede paar Sekunden und ein unbekanntes Wesen wird mich gleich auffressen, wenn ich nicht schleunigst etwas unternehmen würde.
Panisch blickte ich umher. Es musste aus Richtung Norden kommen, dass konnte ich hören. In wenigen Sekunden müsste es vor mir stehen. Das war der einzige Vorteil, wenn man gezwungen war, jeden Tag im Wald seine Nahrung zusammen zu suchen. Man entwickelte ein Gespür für den Wald, die Pflanzen und die Tiere die dort lebten. Man konzentrierte sich mehr auf die Geräusche, die einem vielleicht einen Hinweis gab wo man gut jagen konnte oder wo ein kleiner Fluss sich durch den Wald zog.
Angestrengt versuchte ich das Tier zu finden, um zu sehen wie viel Zeit mir noch blieb um…. Ja um was? Um wegzurennen? Auf einen Baum in der Nähe zu flüchten? Hinter einem großen Stein Deckung suchen? Alleine? Was war mit meiner Mutter? Sollte ich sie hier alleine stehen lassen? Nein, das konnte ich nicht machen.
Doch was denn sonst? Mit ihr stehen bleiben und warten, dass das Tier an uns vorbei rennen wird? Hier im Wald lebten die wildesten Tiere, die wirklich alles fraßen was ihnen in den Weg kam - unsere Überlebenschance war praktisch gleich null. So ein Vieh würde ganz sicher nicht einfach an uns vorbei springen und sich auf die nächstbeste Pflanze stürzen und die verschlingen. (Noch eine Erfahrung, die ich hier gemacht habe: Im Wald gibt es es keine Vegetarier. Da fragte man sich natürlich, wieso es hier überhaupt Pflanzen gab, wenn die Tiere sich hier sowieso nur gegenseitig verspeisten...)
„Ahh!“, schrie plötzlich Keira auf, „Ahhhhhh!“. Kaum war ihr vor Schmerz verzehrter, hoher Schrei im Grummeln des Himmels untergegangen, stand ich auch schon alleine inmitten des Waldes. Die Bäume umzingelten mich wie die Eisenstäbe einer Gefängniszelle, aus der man keine Chance hatte zu fliehen. Und genauso fühlte ich mich jetzt. Allein, hilflos, ich sah keinen Weg aus allem. Das Tier... Die Bestie hatte meine Mutter... Keira...
Allein schon der Gedanke daran... Das ging mit alles zu schnell, das war zu viel für mich:
Auf einmal fühlte ich eine schmerzende Wut in mir, ich weiß wirklich nicht woher die in diesem Moment kam, da mein Körper sich so... ausgelaugt fühlte. Aber gerade vielleicht deshalb war ich so wütend. Meine Augen weiteten sich so stark, dass ich glaubte es wäre unmöglich sie jemals wieder zu schließen und bevor ich überhaupt realisierte was geschah, färbte sich meine ganze Umwelt in harten, unnatürlichen Blautönen, die nach nur wenigen Sekunden von einem glitzernden Weiß weggespült wurden und mich in einen endlosen Traum katapultierten.
Das letzte was ich hörte war ein jaulender, tiefer Schrei.

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